Aus der Versöhnung

„Ein neuer Anfang ist uns durch Gottes Güte geschenkt worden. 40 Jahre leben wir seither in Frieden. Wir konnten unsere Städte und Dörfer aufbauen und uns neue Lebensgrundlagen schaffen. Voller Staunen und Dank haben wir Zeichen der Versöhnung erfahren. Die Zusammengehörigkeit mit den uns benachbarten Völkern ist von gewachsenem Vertrauen getragen. Versöhnung über Gräbern ist Wirklichkeit geworden und darf nicht wieder in Frage gestellt werden.”

Landesbischof Eduard Lohse Kölner Dom, 8. Mai 1985

Es war ein Bild, aus dem Versöhnung spricht. Samstagnachmittag, 14. September 1985, auf dem Britischen Friedhof im Reichswald: viele Klever Bürger sind gekommen, erweisen ihren Respekt durch stille Andacht. Militärische Ehren am Grabe Ronald Edmond Balfours, wo eine Staffel der 26. Squadron des Royal Air Force Regiments unter dem Kommando von „Guard of Honour” Flight Lieutenant Philip Upson das Gewehr präsentiert. An der letzten Ruhestatt des am 10. März 1945 gefallenen Majors verharren Engländer und Deutsche in gemeinsamer Ehrerbietung für jenen englischen Soldaten, der durch deutsche Granatsplitter getötet wurde – getötet, weil er, der „Kunstschutzoffizier” im Dienst der Ersten Kanadischen Armee, für die Rettung deutscher Denkmäler und Dokumente sein Leben riskierte. Jetzt, 40 Jahre später, wurde Major Balfour posthum durch die Verleihung der Johanna-Sebus-Medaille geehrt. Ronald Balfour gab sein Leben, um unersetzliche historische und kulturelle Werte vor der Vernichtung zu bewahren. Seine Hingabe steht ganz in der Tradition der Johanna Sebus, jenes einfachen Bauernmädchens, dem Napoleons Staat ein Denkmal setzte und dem Johann Wolfgang Goethe eine Ballade dichtete – „zum Andenken der Siebzehnjährigen, Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienen”. Johanna Sebus opferte ihr Leben, um anderen zu helfen. Ihre Geschichte kennt in Kleve jedes Kind: Der Damm am Rhein war gebrochen, das Uferland vom eisigen Hochwasser überspült. Auf den Schultern hatte die junge Bäuerin ihre Mutter in Sicherheit getragen – und wollte erneut in die reißende Flut, um noch eine Frau mit ihren zwei Kindern zu retten. „Im Augenblick, da sie die Hand nach den Unglücklichen ausstreckte”, beschrieb damals der ,Moniteur’, „wurde sie mit ihnen von einer Welle verschlungen”. Johanna Sebus ging unter und ertrank – am 13. Januar 1809.

„Für Hilfe in der Not” heißt es auf der von Dieter von Levetzow entworfenen Medaille, die aus Anlaß des 175. Todesjahres der Johanna Sebus vom Klevischen Heimat- und Verkehrsverein sowie den Heimatvereinen „Arenacum” Rindern und „Zur Spoy” Brienen-Wardhausen gestiftet worden war. Im Mai 1984 wurde die Auszeichnung erstmals verliehen – an die Hilfsorganisation „Schweizer Spende”, die im völlig zerstörten Kleve der Nachkriegsjahre Mütter und Kinder vor dem Verhungern gerettet hatte.

40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollten die Klever Heimatvereine mit Major Balfour einen Mann ehren, der die Uniform der anderen Seite trug und durch eine deutsche Granate sein Leben verlor – just als er auf dem Weg war, um deutsche Kirchenschätze zu bergen (die Anregung, die Sebus-Medaille posthum an den Kunstschutzoffizier zu verleihen, hatte übrigens der im November 1984 verstorbene Heimathistoriker Franz Matenaar kurz vor seinem Tod gegeben).

Kriegsdienst – das war für Ronald Edmond Balfour ein Kampf für die Kunst. Der Dozent an der Universität Cambridge, 1904 als Sohn einer englischen Soldatenfamilie geboren, kam mit der D-Day-Landung der Alliierten aufs Festland. Als „Kunstschutzoffizier” der Ersten Kanadischen Armee zog er hinter der Front über Nordfrankreich, Belgien und Holland auf die Schlachtfelder des Klever Landes.

Dort versuchte er zu retten, was zu retten war: in Kleve zum Beispiel Fragmente von zwei großen Schnitzaltären der Stiftskirche, in Goch sämtliche Grundbuch-Urkunden des Amtsgerichts, in Kalkar Stadtarchivalien und in Kranenburg eine wertvolle Büchersammlung aus dem 17. Jahrhundert. Oft genug konnte der Gelehrte in Uniform die Schätze der zerstörten Kirchen und Archive nur vor Plünderern bewahren, indem er sie eigenhändig wegschaffte und an einen unverdächtigen Ort deponierte – drei Wagenladungen Gocher Stadtgeschichte wurden zum Beispiel in den Dachkammern eines Mönches im Klever Kapuzinerkloster abgekippt. Die kämpfende Truppe hatte für ihren Kunstschutz-Kameraden nämlich wenig Verständnis: Für sie war es schlicht absurd, daß ein britischer Offizier britischen Soldaten Gebäude sperrte und Sprengungen verbot – nur um in Hitlerdeutschland Bilder, Bücher und Altäre zu erhalten.

Doch Balfour selbst schilderte seinem Freund Oberstleutnant Geoffrey Webb die Widersinnigkeit seines Arbeitsalltages anders: „Auf der einen Seite die Tragödie wirklicher Zerstörung, viel davon völlig unnötig, auf der anderen Seite das ausgleichende Gefühl, etwas Konkretes selbst getan zu haben …” Die konkrete Hilfeleistung bezahlte der 41jährige mit dem Leben: Er fiel am 10. März 1945.

An seiner Ruhestätte auf dem Britischen Ehrenfriedhof im Reichswald mischten sich – beim stillen Gedächtnis nach 40 Jahren – Erinnerung, Trauer und Versöhnung. Eine Staffel Laarbrucher RAF-Soldaten hielt Ehrenwache, als Peter Reintjes und Roland Verheyen für die Heimatvereine Brienen und Rindern einen Kranz niederlegten. Bürgermeister Gert Brock stand Seite an Seite mit Nancy und Nicholas Balfour, dem älteren Bruder des Gefallenen: ergreifende Minuten gemeinsamen Gedenkens.

Noch Stunden später, beim Festakt in der Stadthalle, war das Klever Stadtoberhaupt zutiefst bewegt. „Das war für mich”, sagte Gert Brock und war dabei den Tränen nahe, „einer der eindrucksvollsten Momente in meinem Leben”. Es war das Gefühl menschlicher Aussöhnung, das Gert Brock an eigene Erfahrungen zurückdenken ließ – an Erlebnisse aus dem Krieg in Rußland, als er nicht nur Kameraden, sondern auch Soldaten des Gegners begraben half. Brock war dem 70jährigen Nicholas Balfour deshalb dankbar für die gemeinsame Manifestation der Verständigung. „Ich danke Ihnen, daß Sie das Anerbieten des Klevischen Heimatvereins angenommen haben”, meinte er: „Denn auch nach 40 Jahren ist es nicht selbstverständlich, über den Tod eines Bruders hinwegzukommen …” Gefreut hat sich das Stadtoberhaupt außerdem über die Bürger: Hunderte waren zur Medaillenverleihung in die Stadthalle gekommen, haben damit, so Brock, „die ausgestreckte Hand angenommen” und eindrucksvoll demonstriert, daß die Auszeichnung des Gegners von damals ein Anliegen der breiten Bevölkerung ist.

40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Verleihung der Sebus-Medaille ein Ausdruck längst vollzogener Aussöhnung. Denn geehrt werden sollten nicht nur individueller Einsatz und Persönlichkeit Ronald Edmond Balfours, sondern auch die Länder und Völker, in deren Dienst die am Niederrhein tätigen Kunstschutz-Offiziere standen. Schon die Dekoration der Stadthalle brachte diese Verbindung zur Darstellung: das auf der Bühne plazierte, überlebensgroße Porträt Balfours war flankiert von den Nationalflaggen Großbritanniens und Kanadas an den Seitenwänden. Die Vertreter der Botschaften saßen in der ersten Reihe – für England Mrs. Phyllis Harrison, Konsul Ihrer Majestät, für Kanada der Generalkonsul Mr. James Elliott. An ihre Adresse war gerichtet, was Heinz Scholten, der Vorsitzende des Klevischen Heimatvereins, über die Bedeutung von Major Balfours Werk fürdie Menschen am Niederrhein formulierte. „Wir sind Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet”, so Scholten, „daß Sie vor 40 Jahren nicht die Fahnen des Siegers über dem geschundenen Kleve hißten, sondern den Keim der Hoffnung auf eine bessere und gemeinsame Zukunft legten.” „Trotz einer Zeit der Feindseligkeiten erkannte Major Balfour die historischen Denkmäler als gemeinsames europäisches Erbe und war sich der Notwendigkeit bewußt, sie für kommende Generationen zu erhalten”, kommentierte Phyllis Harrison die „würdevolle Ehrung” des englischen Soldaten: „Seine Handlungsweise zeugt von einer großen Weitsicht, die ihn zum Vorläufer der heutigen Advokaten des europäischen Ideals macht. Wir sind dankbar, daß uns seine erfolgreichen Bemühungen heute zugute kommen.”

Unter dem großen Applaus der Klever Bürger nahm Nicholas Balfour die Sebus-Medaille stellvertretend für seinen Bruder entgegen. Er würdigte die Auszeichnung als „großen Akt der Versöhnung, sowohl zwischen uns als Einzelmenschen als auch zwischen unseren Nationen”. Den Blick zum Publikum gewandt, fügte Balfour einige persönliche Bemerkungen an. „Die Verleihung der Johanna-Sebus-Medaille hätte meinem Bruder das Gefühl gegeben, etwas erreicht zu haben”, meinte er: „Es bedeutet uns, seiner Familie und seinen Freunden, sehr viel, daß Sie uns auf diese Weise zeigen, wie hoch Sie das Opfer meines Bruders einschätzen!”

Ebenso wie der Vertreter der Universität Cambridge, der Mathematiker Roderick Macpherson, war auch das Ehepaar Balfour eigens für die Verleihung der Medaille aus England an den Niederrhein gereist. Ganz durch Zufall dagegen war bei der Ehrung des Kunstschutzoffiziers auch jener Mann dabei, der 1945 als Lieutenant Colonel die zweite Infanteriedivision der Ersten Kanadischen Armee führte, der Major Balfour damals unterstellt war. Der kanadische General a. D. Whitacker war einige Tage zuvor nach Kleve gekommen, um für ein Buch über den Krieg am Niederrhein zu recherchieren. Als er von der bevorstehenden Ehrung erfuhr, entschloß er sich natürlich spontan, seinen Aufenthalt zu verlängern. Die englischen Gäste wurden bereits am Freitag, 13. September, von Bürgermeister Brock im Rathaus empfangen und trafen abends in der Stadthalle mit Vertretern der Heimatvereine zusammen. Am Samstag stand eine ausführliche Stadtrundfahrt auf dem Programm. Propst Viktor Roeloffs nahm sich viel Zeit, um den Briten bei einer „Special tour” die Klever Stiftskirche zu erklären: „Als kleines Dankeschön für das, was Major Balfour für unsere Kirche getan hat”.

Für Nicholas und Nancy Balfour bedeutete der Besuch von Freitag bis Sonntag ein Wiedersehen nach über zwanzig Jahren, denn: Die Engländer aus Dorset in West County waren bereits 1961 in Goch, auf dem Ehrenfriedhof und in Kleve zu Besuch. „Eine historisch faszinierende und wunderschöne Stadt”, schwärmte Nancy Balfour. „Wir waren über die wunderbare Idee sofort begeistert”, beschrieb sie ihre Reaktion auf die Einladung aus Kleve: „Die Verleihung der Medaille ist ein Anlaß, der sehr viel Hoffnung für die Zukunft gibt”.

Hoffnung für die Zukunft – dieser Aspekt beschäftigte auch Museumsleiter Drs. Guido de Werd in seinem […] Referat. Selbst das Engagement und der idealistische Opfermut von Männern wie Ronald Balfour würden heute Menschen und Zivilisation nicht vor der endgültigen Vernichtung bewahren können – zu ungeheuerlich sind die in den Jahren des „Friedens” angehäuften Vernichtungspotentiale. Der Hinweis stimmt nachdenklich. 40 Jahre nach Balfours Tod könnten auch seine Rettungsaktionen von damals nicht mehr helfen. Vierzig, das hatte Erzbischof Joseph Kardinal Höffner am 8. Mai 1985 betont, bezeichnet in der Heiligen Schrift eine Zeit der Bewährung, der Prüfung, der Mühe, der Ausdauer, der Besinnung. Nicht umsonst sagte Mose am Ende des 40jährigen Wüstenzuges zu seinem Volk: „Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus der Geschichte” (Dtn 32,7).

 

Quelle: Rund um den Schwanenturm Nr. 7 (1985), Rolf Langenhuisen, Kleve S. 3ff.