Es ist 50 Jahre her, dass viele bis dahin selbstständige Gemeinden Teil der größeren Nachbarkommune wurden. In Kleve diskutierten auf Einladung der RP Zeitzeugen aus Politik, Verwaltung und Heimatvereinen mit dem Publikum.

Was damals für größte Aufregung, tiefe Kränkung und hier und da erheblichen Bürgerprotest sorgte, taugt heute meist nur noch für Scherze und kleine Frechheiten. Kaum jemand möchte sich wohl vorstellen, wie es wäre, wenn jedes 1000-Seelen-Dorf sein eigenes Rathaus unterhalten müsste. Aber im Alltag, so raunten es sich Zuhörer der RP-Diskussionsrunde zu, ist es immer noch so, dass man Kellener ist oder Materborner und nicht Klever, nur weil es so im Personalausweis steht. Wenn Kirmes ist oder Schützenfest, dann trumpfen die früher selbstständigen Orte noch mal so richtig auf, und dann ist das auch so gewünscht. Ansonsten aber haben die Bürger seit 1969 genügend Zeit gehabt, um sich mit den Folgen der kommunalen Neuordnung zu arrangieren.

Hans-Hermann Schröer, in jener Zeit Beigeordneter und dann Stadtdirektor von Kleve, Josef Joeken, damals CDU-Nachwuchspolitiker und später Bürgermeister, Heidi de Ruiter, Referentin der Euregio und als Vertreter der Heimatvereine Rainer Hoymann und Josef Gietemann blickten  weit zurück und auch ein wenig in die Zukunft. Das Podium wurde vervollständigt durch Klaus-Werner Hütz (Grüne) als stellvertretender Bürgermeister, RP-Redakteur Matthias Grass moderierte.

Zur Erinnerung und Einordnung hielt Stadtarchivar Bert Thissen erst einmal einen Vortrag. Der Name Willi Weyer war dabei ganz wichtig, denn der FDP-Innenminister war es, der in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts die Kommunalreform durchsetzte und sich damit den Ruf eines „Napoleon“ erwarb, was damals eher nicht als Auszeichnung gedacht gewesen sei dürfte. Zumindest die Menschen in den kleineren Orten verloren zwischen 1966 und 1975 einen Teil ihrer Identität; die Bürger von Materborn, Donsbrüggen, Keeken, Rindern, Wardhausen, Brienen, Griethausen, Kellen, Salmorth, Warbeyen und Reichswalde wurden zu Klevern, ob sie wollten oder nicht. Selbst Flurstücke der Gemeinden Hau und Schneppenbaum wurden der Stadt zugeschlagen.

Die Idee einer Gebietsreform übrigens keinesfalls aus dem Nichts, machte Thissen deutlich. War Kleve um 1650 noch das Gebiet innerhalb der Stadtmauer, erweiterte bereits Moritz von Nassau-Siegen das Stadtgebiet um Gärten und Flächen außen herum. Erst durch das Bevölkerungswachstum und die Industrialisierung wuchs allerdings die eigentliche Stadt, was dann auch durch mehr Infrastruktur wie neue Straßen und ein geordnetes Verkehrswesen erkennbar wurde. „Etwa bis zum Ersten Weltkrieg war die Erweiterung Kleves aber nicht Folge einer konkreten Planung“, erklärte Thissen.

Zwar hatten Politik und Verwaltung etwa ab der Jahrhundertwende erkannt, dass eine geordnete Stadterweiterung nötig sei, es dauerte dann aber noch mal Jahrzehnte, bis es ernster wurde. Die neu definierten Bundesländer nach dem Zweiten Weltkrieg packten die Sache an. Den Kreisen selbst war es nicht gelungen, Veraltungsgemeinschaften einzurichten, in Kleve etwa widersetzten sich Kellen, Reichswalde und Materborn.  Die sozialliberale Koalition verfügte die Neuordnung schließlich „in der Hoffnung auf mehr Wohlstand und mehr Partizipation der mündigen Bürger“, so der Stadtarchivar.

Im Vergleich zu den größeren Städten hielt sich der Protest auf dem Land im Rahmen, Kellen klagte zwar vor dem Verfassungsgericht, hatte aber keinen Erfolg. Und Hans-Hermann Schröer musste zusehen, wie er 600 Beamte aus den bis dahin selbstständigen Ämtern mit sinnvollen Aufgaben bei der neuen Stadt Kleve beschäftigt kriegte. Manche Position war schließlich doppelt und dreifach vergeben, und es war an Schröer, die geeigneten Personen für Leitungsaufgaben zu bestimmen. „Eine schwierige Sache waren die letzten eigenständigen Haushalte, jeder versuchte, noch so viel wie möglich für seinen eigenen Ort zu retten“, erinnert sich der damalige Dezernent Schröer, der kurz darauf Stadtdirektor wurde.

Aus heutiger Sicht klingt manches komisch, was damals in der Praxis erst einmal funktionieren musste. „Einen Geschäftsverteilungsplan gab es nicht. Wir hatten eine Poststelle, die sich die Briefe anguckte und sie abstempelte. Welches Amt darauf stand, war zuständig“, erinnert sich Schröer schmunzelnd. Aber die Verwaltung wurde schnell professionalisiert, man entwickelte Satzungen, betrieb Stadtplanung. Einige Straßennamen wurden erneuert, weil es sonst in Kleve zum Beispiel mehrere Mühlenstraßen gegeben hätte. Die politische Opposition hatte bis dahin nach Kräften versucht, die aletn Strukturen zu verteidigen. Außer Josef Joeken, damals in der Jungen Union aktiv. Der Student sah offenbar zuversichtlich in die Zukunft und setzte sich mutig für Groß-Kleve („vom Rhein bis zum Reichswald“) ein. „Das führte dazu, dass in Kellen und Materborn viele Leute lange Zeit nicht mehr mit mir sprachen“, so Joeken.

Klaus-Werner Hütz, Ende der 80-er Jahre zugezogen, hat den Eindruck, dass die Animositäten von damals heute überwunden sind. Zum Glück sei ja erkannt, dass eine Versorgung mit Alltäglichem zumindest in den größeren Ortsteilen gegeben sein muss. Rainer Hoymann, Vorsitzender des Klevischen Vereins für Kultur und Geschichte, ist der Ansicht, man müsse „die Peripherie beachten und damit den Kern stärken“, das biete die größten Entwicklungschancen. Ähnlich sieht es Josef Gietemann, stellvertretender Bürgermeister (SPD) und Vertreter des Kellener Vereins Arenacum. Die Heimatvereine sind ja in gewisser Weise die Erben der Gemeinderäte – ihre Vorstände zumindest die Anwälte der Menschen in den Dörfern.

Mit vielen Erinnerungen, Wünschen an die Zukunft und einem Blick in  Richtung Nachbar Niederlande, den Heidi de Ruiter fachkundig lenkte, ging der Abend zu Ende. Klever aus Kellen, Materborn oder Griethausen gingen oder fuhren zufrieden heim.

 

INFO

Die erste Ratswahl war im November 1969

Gesetz Das Land NRW verabschiedete das Gesetz zur Neugliederung des Landkreiseses Kleve am 11.3.1969. Die neue Stadt Kleve existiert seit 1.7.1969.
Stadt Die Einwohnerschaft verdoppelte sich von knapp 23.000 auf über 45.000 Bewohner.
Rat Die erste Ratswahl war im November 1969. Bürgermeister wurde Richard van de Loo (CDU). Hans-Hermann Schröer wurde Stadtdirektor.

 

Quelle: RP Online, Anja Settnik (Text), Markus van Offeren (Foto), 30.09.2019